Als die Bürger die Pfarrkirche stürmten:

Der Marburger Kirchentumult

im August 1605

Im August 1605, vor etwas mehr als 400 Jahren, stürmte eine aufgebrachte Menge von Marburger Bürgern während eines Gottesdienstes Kanzel und Altarbereich der Stadtpfarrkirche, warf die Geistlichen, die den Gottesdienst abhielten, hinunter und prügelte sie fast zu Tode. Die anwesenden landgräflichen Beamten und der Stadtrat sahen sich nicht in der Lage, die

Ausschreitungen zu verhindern. Für Tage nahm die Menge die Kirche in Besitz und übernahm faktisch die Macht in der Stadt. 1605 trat ein neuer Landgraf die Herrschaft über Marburg an: Mit dem Tod des kinderlosen Landgrafen Ludwig IV. endete die Existenz des eigenständigen Territoriums Hessen-Marburg; das Gebiet um Marburg fiel an Hessen-Kassel. Konfessionell hatte Ludwig IV. ein strenges Luthertum vertreten, während die Kasseler Linie Sympathien für die reformierte (calvinistische) Richtung des Protestantismus zeigte. Seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 galt auch in Hessen das Prinzip „cuius regio, eius religio"

- der jeweilige Landesfürst bestimmte die Religion seiner Untertanen. Im Hinblick auf die zu erwartendende Erbteilung hatte Ludwig IV testamentarisch verfügt, dass die lutherische Konfession nicht angetastet werden dürfe. Doch kurz nachdem der Kassel Landgraf Moritz die Herrschaft über das Marburger Gebiet angetreten hatte, führte er die so genannten „Verbesserungspunkte" ein, die faktisch auf die Einführung der calvinistischen Konfession hinausliefen. Als die bisherigen Geistlichen der Stadt sowie die Theologie-Professoren der Universität dies erwartungsgemäß ablehnten, wurden sie im Juli 1605 entlassen. In der Bürgerschaft formierte sich der Widerstand. Dieser ging vor allem von den Zünften und von den Vertretern der Gemeinde (der einfachen Bürger, die keiner Zunft angehörten) aus. Die Mitglieder des Rates der Stadt dagegen, vom Landgrafen auf Lebenszeit ernannt, stammten einerseits aus den einflussreichsten Marburger Familien, andererseits zunehmend aus den Reihen der landgräflichen Beamten.

Obwohl bereits viel über den Marburger Kirchentumult geschrieben wurde, war die Rolle des Rates bei dem Tumult bisher wenig erforscht. Neuere Forschungen zeigen, wie schwankend sich der Rat gegenüber den Protesten verhielt. Bei einer ersten Vorladung des Rates durch den landgräflichen Kanzler verstummte anfänglicher Widerspruch schnell. Erst die Vertreter der Zünfte, eine Woche später vorgeladen, organisierten Versammlungen und verfas-sten Schreiben mit der Bitte, keine Änderung

der Religion vorzunehmen. Unter diesem Druck erstellten erstmals Bürgermeister, Rat, Zünfte und Gemeinde eine gemeinsame Bittschrift (Supplik) an den Landgrafen. Als dieser die Forderungen ablehnte, war wohl für den Rat, nicht aber für die Zünfte die Sache abgeschlossen. Sie setzten gegen die Hinhaltetaktik des Rates eine Versammlung durch, auf der sie erneut eine Supplik beschlossen. Diese enthielt Passagen, die als Provokation des Landgrafen wirken mussten. So wurde auch die Verletzung des Testaments Ludwigs IV angesprochen. Der Rat distanzierte sich und verschob die Entscheidung auf eine weitere Versammlung, die aber auf Grund des Tumultes nicht mehr stattfand.

Nach dem Tumult nahmen die aufständischen Bürger die Kirchenschlüssel an sich, besetzten die Stadttore, kauften für ihre Waffen, die fast alle Bürger zu Verteidigungszwecken besaßen, al les Pulver in der Stadt auf und glaubten mil den Abgesandten des von den Ereignissen über raschten Landgrafen verhandeln zu können. Nun machte sich auch beim Rat eine veränderte Stimmung bemerkbar: Der für die Finanzen der Kirchengemeinde zuständige Kastenmeister fragte beim Rat an, ob er den abgesetzten fl iihe ren Geistlichen ihr Gehalt für das laufende Quartal auszahlen dürfe. Der Rat beschloss, er solle sogar das Gehalt des ganzes Jahres, und noch eine „Verehrung" dazu zahlen. Für den Aufruhr machte man im Ratsprotokoll „Studen ten und gemeine Bürgerschaft" verantwortlich. Erst in den folgenden Tagen gelang es dem Landgrafen, durch Drohung mit militärischer Gewalt, durch Entwaffnung der Bürger und durch Einquartierung von Soldaten den offenen Widerstand zu brechen. Der kurz nach den Ereignissen auf Veranlassung des Landgrafen er schienene „Historische Bericht" behauptete, Bürgermeister und Rat hätten sich gegenüber der Reform „allzeit bescheidentlich und unwidersetzlich erzeiget".

Dieser Artikel beruht auf einer ausführlichen Darstellung der Ereignisse in der 2005 erschienen Mar burger Stadtschrift „Tagelöhner, Zunftmeister, Stadt-Schreiber. Städtisches Leben im 16. und 17. Jahrhun dert im Spiegel einer Marburger Bürgerfamilie" von Christopher Ernestus(14,-EUR,ISBN 3-923820-81- X).